Samstag, 28. März 2015

Europa, EU, Schweiz – Krise und Perspektiven








Europa, EU, Schweiz – Krise und Perspektiven

Widerspruch 65: Beiträge zu sozialistischer Politik [Kindle Edition]

C. Bernardi B. Glättli P.-A. Niklaus E. Piñeiro B. Lochbihler G. Bozzolini B. Allenbach V. Alleva L. Mayer V. Pedrina A. RiegerE. Klatzer C. Schlager H.-J. Bieling F.O. Wolf R. Herzog 

Nach der Annahme der Initiative der Schweizerischen Volkspartei »Gegen die Masseneinwanderung« steht das Verhältnis der Schweiz zur EU grundsätzlich zur Disposition. Rechtspopulistische und fremdenfeindliche nationalistische Kräfte aus den umliegenden Ländern begrüßten den Entscheid, teilweise enthusiastisch. Kommt es in Europa zum Rückfall in den Nationalismus? Stoßen »nationale Identitäten« vermehrt auf Resonanz?
Während die europäischen Regierungen und die EU-Kommission gegenüber der Schweiz betonen, dass die Personenfreizügigkeit als tragender Pfeiler der EU nicht verhandelbar sei, fühlen sich die Kräfte der Abschottung in der Schweiz bestärkt.
Die Wirtschaftskrisen in Europa haben demokratische Entscheidungsprinzipien infrage gestellt. Gleichzeitig kommt Kritik an der direkten Demokratie in der Schweiz auf. Findet in Europa eine Entdemokratisierung statt?

Widerspruch 65 thematisiert das Verhältnis der Schweiz zur EU, aber auch wirtschaftliche und politische Veränderungen innerhalb der EU. Wohin steuert Europa?





4 Kommentare:

  1. Der Widerspruch widmet sein neuestes Heft ein weiteres Mal der EU-Integration. In den Analysen ist man sich weitgehend einig: die EU ist in Europa zum vorrangigen Raum für die Durchsetzung neoliberaler Optionen in der Gesellschaftspolitik geworden. Allgemein wird auch ein Demokratiedefizit diagnostiziert. Zudem werden die Abschottungstendenzen der EU und deren inhumane Flüchtlingspolitik ausführlich thematisiert.

    Wie mit den kritischen Befunden umzugehen ist, darüber sind sich die Autoren weniger einig- wenn auch ein Vor-Urteil zugunsten kontinentaler, kaum demokratisierbarer Politstrukturen auszumachen ist. Die Stärkung des klassischen Territorialstaates und damit die Redemokratisierung auf tieferer Ebene wird gewöhnlich sehr schnell als „nationalistisch“ „national-populistisch“ oder „reaktionär“ abgetan – ohne ernsthafte Diskussion.

    Demgegenüber werden Perspektiven der Demokratisierung der EU oder eines sozialen Europa-Projektes skizziert, die oft an ein Wunschkonzert erinnern, ohne jede halbwegs seriöse Analyse der Realisierbarkeit solcher Visionen.

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  2. Ein typisches Beispiel für diese Tendenzen eine Passage aus dem Artikel von Hans-Jürgen Bieling: „Im Kontrast zur nationalen Abschottung sind demzufolge politische Projekte zu entwickeln, die im Sinne eines ‚progressiven Konstitutionalismus‘ die demokratisch-solidarischen Handlungsmöglichkeiten in der EU einschliesslich der nationalen und regionalen Arenen, erweitern.

    Ein Schwerpunkt sollte sein, die marktliberal-autoritäre Engführung der Wirtschafts- und Währungsunion zu korrigieren, […] insbesondere durch die Abschwächung der Wettbewerbspolitik und die Entwicklung industriepolitischer Instrumente sowie durch eine verteilungspolitisch gerechtere Steuerpolitik.

    Letztlich würde ein solcher Prozess auf einen neuen – auf sozialen Ausgleich und politische Kontrolle ausgerichteten – Vergemeinschaftungsschub hinauslaufen. Um aber den ademokratischen, potentiell autoritären Charakter der EU nicht noch weiter zu stärken, müsste als zweiter Schwerpunkt eine nachhaltige Demokratisierung des EU-Systems gefordert werden.

    Entsprechende Reformschritte sollten dabei der Genese einer transnationalen europäischen Öffentlichkeit förderlich sein. Zum einen sind die zivilgesellschaftlichen Akteure zu mobilisieren; und zum anderen ist komplementär zur Etablierung einer europäischen Wirtschaftsregierung die Funktionsweise des EU-Parlaments zu verändern.“ (S. 110).

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  3. Sind Abschottung, Ausgrenzung und Nationalismus Kennzeichen einer künftigen Schweiz? Nach der knappen Annahme der rechtspopulistischen Volksinitiative gegen die sogenannte Masseneinwanderung hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) bereits zwei neue Initiativen angekündigt. Die eine verlangt, dass alle Asylsuchenden, die über ein sicheres Drittland in die Schweiz gelangen, konsequent nach den Dublin-Regeln dorthin zurückgeschafft werden. Die andere will schweizerisches Recht dem Völkerrecht überordnen. So sollen «fremde Richter» ferngehalten werden, und das «Volk» soll selbst Menschenrechte einschränken können. Dabei fehlt in der Schweiz eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die Volksinitiativen auf ihre Vereinbarkeit mit Verfassung und internationalen Verträgen überprüfen könnte, und im Parlament ist die Mehrheit nicht gewillt, menschenrechtswidrige Volksinitiativen für ungültig zu erklären.

    Analysen zur Masseneinwanderungsinitiative in diesem Heft kommen zum Schluss, dass ausländerfeindliche Motive eine wirksame Plattform erhielten (G. Bozzolini) und dass es den Initianten gelungen ist, «Einheimische» zu mobilisieren gegen Behörden, welche angeblich die Verfassung gefährden (E. Piñeiro). Die Weigerung der Wirtschaftsverbände, flankierende Massnahmen zur Personenfreizügigkeit griffiger zu gestalten, hat die rechtsnationalistische Kampagne noch gestärkt. Nun droht die Wiedereinführung einer menschenverachtenden Kontingentierung der Zuwanderung (V. Alleva / V. Pedrina; B. Allenbach). Menschen- und verfassungsrechtliche Fragen stehen auch in der Abstimmung zur Initiative «Ecopop» mit ihrem ökologischen «neuen Rassismus» (B. Glättli / P.-A. Niklaus) im November 2014 zur Debatte.

    Ausländische Reaktionen auf den Abstimmungsentscheid gegen die «Masseneinwanderung» zeigen indessen, dass solche Probleme in ganz Europa virulent sind. Zwar ist bei den Wahlen zum Europaparlament der grosse Rechtsrutsch ausgeblieben, aber rechtspopulistische Kräfte haben in einzelnen Ländern stark zugelegt. Dies hat auch mit Demokratiedefiziten zu tun. Denn ausländer- und EU-feindliche Bewegungen verdanken ihren Aufschwung nicht zuletzt dem Umstand, dass in der EU völkerrechtliche

    Verträge systematisch genutzt werden, um den Exekutiven demokratisch nicht abgestützte Befugnisse zu verschaffen. So konnte die EU mit ihren wirtschaftspolitischen Kompetenzen ab 2008 die Lasten der Wirtschaftskrise auf breite Bevölkerungsschichten abwälzen, insbesondere auf Frauen, Migrantinnen und Migranten. Dabei sind Fortschritte der rechtlichen Gleichstellung wieder zunichte gemacht worden (E. Klatzer / C. Schlager). Die EU-Migrationspolitik hat die Aussengrenzen weiter befestigt (B. Lochbihler) und gesteht selbst BürgerInnen einiger Mitgliedsländer nur eingeschränkte Mobilitäts- und Bürgerschaftsrechte zu (C. Bernardi).

    Die Stärke der rechtsnationalistischen Kräfte in der Schweiz ist von grosser Tragweite für die institutionellen Beziehungen zur EU, dem wichtigsten Handelspartner. Die Weigerung der EU, über das Prinzip der Personenfreizügigkeit zu verhandeln, wird eine Grundsatzabstimmung zu den Beziehungen Schweiz–EU erzwingen und die Beitrittsfrage erneut aufwerfen.

    Unsicherheit und Nervosität sind in allen politischen Lagern spürbar, klare Strategien sind nicht ersichtlich. Jede künftige Gestaltung des Verhältnisses zur EU wird jedoch daran zu messen sein, ob demokratische Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden. In dieser Auseinandersetzung wäre ein «soziales Europa» perspektivisch zweifellos sehr wichtig.

    Im September 2014, die Redaktion Widerspruch
    Teil 1

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  4. Weitere Schwerpunktbeiträge im Heft zeigen jedoch, dass die EU unter dem Regime der Troika und der wirtschaftlich führenden Länder gegenwärtig weniger sozial denn «marktliberal-autoritär» verfasst ist (H.-J. Bieling; A. Rieger). Ihre exekutivlastige Wirtschaftspolitik hat die sozialen Spaltungen verschärft, sie zwingt vor allem die südeuropäischen «Krisenländer » zu einer Politik der Prekarisierung. Basisdemokratische Erfahrungen in den am stärksten betroffenen Ländern eröffnen jedoch auch Perspektiven für eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, für ein «solidarisches und egalitäres Europa» (R. Herzog). Der Weg dahin führt zwangsläufig über «transnationale Bündnisse» (F. O. Wolf). Auslöser könnte ein Bruch mit den «neoliberalen Machtverhältnissen» (L. Mayer) sein, etwa indem einzelne Staaten Abkommen brechen, Schuldenrückzahlungen sistieren und damit die EU-Strukturen erschüttern. Solche Impulse müssten jedoch von EU-weiter Solidarität getragen werden. Die linken Kräfte sind gefordert.

    Im Diskussionsteil befassen sich Philipp Casula mit Ernesto Laclaus Populismustheorie und Stefan Howald mit Stuart Halls Beiträgen zur Diskurstheorie und den Cultural Studies. Urs Marti hinterfragt die Politische Philosophie bezüglich ihrer Positionen zu Demokratie, Gleichheit und Machtungleichgewichten. Aus Anlass der aktuellen Debatte zum Ersten Weltkrieg rekonstruiert Hans Schäppi die Rolle der damaligen Schweiz zwischen Neutralität und wirtschaftlichen Profiten. Kurzbeiträge und Besprechungen runden das Heft ab.

    Im September 2014, die Redaktion Widerspruch
    Teil2

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