Mittwoch, 4. Februar 2015

Gewalttätigkeit verstehen ?





“Gewalttätigkeit verstehen”

Zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers und psychoanalytischen Sozialarbeiters Ernst Federn…
Benjamin Reich
Die Welt versinkt wieder einmal in Gewalt. Blutige Anschläge, Kaskaden von Gewalttaten, Gewaltexzesse – besonders im Nahen Osten. Unaufhaltsam und greifbar und doch unbegreifbar – so erscheint uns Gewalt. Politologen, Soziologen, Philosophen und Psychologen haben sich jahrhundertelang um die Ergründung von Terror und Gewalt bemüht. Die Gewalt scheint ihrer theoretischen Erfassung jedoch immer voraus zu sein, sie ist uns immer voraus.
Einen besonderen Zugang zum Phänomen der Gewalt eröffnet das Werk Ernst Federns. Illusionslos, nüchtern, undramatisch, aber trotzdem lebendig und hautnah – so präsentiert er seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mit Gewalt – und so formuliert er auch seine Versuche „Gewalttätigkeit zu verstehen“. Ernst Federn (1914-2007), der in Wien geborene Sohn des Sigmund Freud Statthalters Paul Federn, wurde bereits im Alter von 23 Jahren am 14.03.1938 wegen seines antifaschistischen Engagements von der Gestapo verhaftet und zunächst nach Dachau, einige Monate später in das KZ Buchenwald deportiert. Die sechseinhalb Jahre, die er in Haft verbrachte, berechtigten ihn zur Behauptung:
„Ich habe so lange und so intensiv unter Gewalt gelebt, daß ich ohne ungebührlichen Narzißmus behaupten kann, daß ich etwas von ihr verstehe. (…) Ich weiß, wie es ist, Opfer von Gewalt zu sein, weiß aber auch, wie man sich fühlt, wenn man selbst gewalttätig sein will“ (Federn 1999, S. 86).
Federn überlebte – was der Wiener Federn-Forscher Bernhard Kuschey ein „Wunder“ nannte. Er emigrierte zuerst nach Brüssel und dann in die USA, um 1973 auf Einladung von Bruno Kreisky wieder nach Wien zurückzukehren und bei der Reformierung des österreichischen Strafvollzugs tatkräftig und erfolgreich mitzuwirken. Der theoretische ,Ertrag‘ seiner oft brutalen Erfahrungen mit Gewalt ist sehr beachtlich: Dazu gehören neben seinem schon 1946 im Brüsseler Exil veröffentlichten „Essay sur la psychologie de la terreur“ (Federn 1946) auch mehrere weitere bedeutende Texte zur Psychologie und Soziologie von Terror und Gewalt, die neulich gesammelt im von Roland Kaufhold herausgegebenen Band „Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors“ erschienen sind (Gießen: Psychosozial-Verlag 2014).
Zum 100. Geburtstag Ernst Federns am 26. August 2014 ist nun ein weiteres wichtiges Werk erschienen, das sich Ernst Federns Umgang mit dem nationalsozialistischen Terror und der Beleuchtung und Konzeptualisierung von Gewalt in seinem Werk verschreibt: der in der Zeitschrift „Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung“ von Oliver Decker und den Gastherausgebern Roland Kaufhold und Galina Hristeva herausgegebene Band „Gewalttätigkeit verstehen. Zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers und psychoanalytischen Sozialarbeiters Ernst Federn”. (Pabst Publishers: Lengerich 2014). Bekannte Forscher – Psychologen, Psychoanalytiker, Soziologen, Pädagogen, Literaturwissenschaftler, Wissenschaftshistoriker und Freunde Ernst Federns – rekonstruieren seinen bemerkenswerten Weg „von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien“, seine Pionierleistungen bei der Untersuchung der Psychologie des Terrors, aber auch bei der Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik, der kollektiv orientierten Psychoanalyse und psychoanalytischen Sozialarbeit, der psychoanalytischen Geschichtsschreibung und der politischen Psychoanalyse. Drei Beiträge von Ernst Federn sind ebenfalls in den Band aufgenommen: „Der therapeutische Umgang mit Gewalt“, „Was ist psychoanalytische Sozialarbeit und wozu wird sie gebraucht?“ und „Die Paul Federn Study-Group“. Durch zahlreiche Fotos wird es auch möglich, Ernst Federn auf seinem Weg als „Sozialist, Verfolgter, Psychoanalytiker und Sozialarbeiter“ durch den „Kosmos der Gewalt“ (Kuschey) zu begleiten. Trotz der Schrecken, die er gesehen und erlebt hat, hat sich der KZ-Überlebende Ernst Federn immer geweigert, als ohnmächtiges Opfer angesehen zu werden. Dem Trauma der Gewalt setzte er seinen Überlebenswillen, seinen unerschütterlichen Optimismus, seinen Kampfwillen entgegen. Von diesem außergewöhnlichen Geist ist auch dieser neue, ihm gewidmete Band durchdrungen.
Wie die Herausgeber Roland Kaufhold und Galina Hristeva in ihrer exzellenten Einführung zum Band festhalten, hat Ernst Federn mit „beeindruckender Klarheit, Präzision und einer kraftvollen Sprache mehrere Ursachen für die Ausübung von Gewalt offengelegt“, doch die Theorie der Gewalt war ihm kein Selbstzweck, sondern nur ein Teil seiner Warnung vor dem „Absturz der Menschheit in die Bestialität“, denn (wie ihm seine Tante, die Widerstandskämpferin Etta Federn (1883-1951), 1945 schrieb): „Der Kampf gegen den Ungeist ist nicht zu Ende! Im Gegenteil – er nimmt nur jetzt wieder neue Formen an.“

Biografisch-werktheoretische Zugänge

Roland Kaufhold
„Ein Jahr Untersuchungshaft und sieben Jahre Konzentrationslager gaben mir ein weiteres Verständnis für die Psychologie des Inhaftierten.“ 
Biografische Kontinuität, Emigration und psychoanalytisch-pädagogisches Engagement
Zusammenfassung

Bernhard Kuschey
Ernst Federn – Sozialist, Verfolgter, Psychoanalytiker und Sozialarbeiter. Eine Werkbiographie
Zusammenfassung

Roland Kaufhold
„So wird das Herz in Stücke gerissen … ich glaube, das schmerzt mehr, als geschehe es wirklich mit Messern.“
Erinnerung an Hilde Federn (26.10.1910 – 19.01.2005)
Zusammenfassung


Neu-Beginnen:
Ernst Federns Neuanfang in Belgien (1945-1947) im Spiegel seines Briefwechsels


Diana Rosdolsky
Der Briefwechsel zwischen Ernst Federn und seinem Vater Paul zwischen 1945 und 1947
Zusammenfassung

Marianne Kröger
„Der Kampf gegen den Ungeist ist nicht zu Ende!“ 
Briefe Etta Federns 1945 an ihren Neffen Ernst Federn
Zusammenfassung


Zur Psychologie des Terrors:
Das Wunder von Ernst Federns Überleben


Ernst Federn (1990)
Gespräche zwischen Bruno Bettelheim, Dr. Brief und Ernst Federn

David Becker
Trauma und Traumatheorie: Bruno Bettelheim, Ernst Federn und Hans Keilson
Zusammenfassung

Tomas Plänkers
„Und habe geweint, einfach ohne jeden Grund.“
Ernst Federn in Buchenwald – die Re-Lektüre eines Interviews
Zusammenfassung

Wilhelm Rösing & Marita Barthel-Rösing
Zum intersubjektiven Prozess der Arbeit am Film mit Ernst Federn und Hilde Federn
Zusammenfassung


Psychoanalytische Sozialarbeit und Pädagogik

Ernst Federn
Der therapeutische Umgang mit Gewalt. Ernst Federn über August Aichhorns Beiträge zur „Psychoanalytischen Sozialarbeit”

Thomas Aichhorn
Bemerkungen zur den Protokollen der „Aichhorn Untergruppe“ und zu Ernst Federns Arbeit „August Aichhorns’s work as a contribution to the theory and practice of Case Work Therapy“
Zusammenfassung

Karin Maas & Michael Maas
Milieu und Risiko – Die Spuren sind gelegt! Ernst Federns Anstöße für die Milieutherapie in einer „gesprengten“ Institution
Zusammenfassung


Ernst Federn als Historiker der Psychoanalyse

Ernst Federn
Die Paul Federn Study-Group

Galina Hristeva
„Eine wahnsinnige Arbeit! Allerdings eine riesig interessante!“
Ernst Federn als Herausgeber der „Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“
Zusammenfassung


Psychoanalyse und Politik

Andreas Peglau
Wie funktioniert politische Psychoanalyse?
Zusammenfassung


Buchbesprechung

Wilhelm Reich und der Nationalsozialismus
Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

1 Kommentar:


  1. „Ein Jahr Untersuchungshaft und sieben Jahre Konzentrationslager gaben mir ein weiteres Verständnis für die Psychologie des Inhaftierten.“
    Biografische Kontinuität, Emigration und psychoanalytisch-pädagogisches Engagement
    Roland Kaufhold

    Zusammenfassung: Das Leben und Wirken Ernst Federns – von Wien über Dachau und Buchenwald in die USA und wieder zurück nach Wien – wird entfaltet unter dem Aspekt einer biografischen Kontinuität. Federns theoretische und klinische Beiträge zu einer Psychologie des Terrors, zur psychoanalytischen Sozialarbeit und Pädagogik werden im Kontext seiner ihn prägenden Wiener Jugend als Sohn des Freud-Stellvertreters Paul Federns beschrieben – sowie seiner Fähigkeit, stets „das Beste“ aus einer schwierigen, existenzbedrohenden Situation zu machen. Seine Freundschaft und gemeinsamen Gespräche mit Bruno Bettelheim und dem später ermordeten Psychoanalytiker Otto Brief im Konzentrationslager Buchenwald bildeten die Grundlage seiner psychoanalytischen Studien zum Terror. Ernst Federns Entschluss, 1973 wieder nach Wien zurückzukehren, bildete innerhalb der vertriebenen jüdischen Psychoanalytiker eine Ausnahme.

    Schlüsselwörter: Ernst Federn, Biografieforschung, politischer Widerstand, Konzentrationslager, Exil, Psychologie des Terrors, psychoanalytische Pädagogik, psychoanalytische Sozialarbeit, Zeitzeuge, Bruno Bettelheim, Otto Brief

    Dr. Roland Kaufhold
    Köln
    kaufhoro5@netcologne.de

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