Dienstag, 6. Januar 2015

Zwischen Amok und Alzheimer






Zwischen Amok und Alzheimer:
Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus

Broschiert – 
von Götz Eisenberg (Autor)Götz Eisenberg, geboren 1951 in ArolsenHessen, ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach.

Eisenberg 
bemüht sich unter Berufung auf Erich FrommKlaus Horn und Peter Brückner um eine Vermittlung sozialpsychologischer und soziologischer Ansätze. Als einer der ersten Autoren wandte er sich dem Thema „Amok“ zu. Dabei begnügt er sich nicht mit der Suche nach der individuellen Psychopathologie der Täter, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die solche Taten begünstigen. Laut Eisenberg droht der Amoklauf zur „kriminellen Physiognomie des globalen Zeitalters“ zu werden.

Der im Namen des Neoliberalismus von der Leine gelassene Kapitalismus hat ein gesellschaftliches Klima der Kälte und Feindseligkeit entstehen lassen, das sich in den Menschen als psychische Frigidität, Rücksichtslosigkeit und Indifferenz reproduziert.

Selbst auf die Kindheit fällt ein Kälteschatten: Die Gesellschaft des entfesselten Marktes bemächtigt sich der Kinder mittels elektronischer Medien. Eine derartige Form der Sozialisation fördert die Produktion von Psychopathen.
So wächst ein Menschentyp heran, der in seiner Bindungs-, Skrupel- und Gefühllosigkeit der Funktionsweise der Gesellschaft des entfesselten Marktes entspricht und sie am Leben erhält.

Doch Götz Eisenberg belässt es nicht bei dieser von ihm an vielen Beispielen konkretisierten Feststellung. Er sucht nach Auswegen. »Eisenberg macht eine alltägliche Beobachtung und knüpft einen so frappierenden Gedanken daran, dass uns ein einziger Satz den medialen Schleier von den Augen nimmt.« (Matthias Altenburg, alias Jan Seghers, Frankfurter Rundschau)


3 Kommentare:

  1. „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“
    Von Brigitte Pick

    Götz Eisenberg hat ein sehr lesenswertes Buch etwas eigenwillig strukturiert geschrieben, das mit einem klaren Standpunkt aufwartet und ein Angebot zur Orientierung bietet. Er selbst nennt sein Buch „eine Collage von essayistischen Fragmenten, keinen in sich geschlossenen Text.“ (S.28)
    Das schließt Redundanzen ein.
    Der Autor, der uns auch an seiner politischen Sozialisation Ende der 1960 teilhaben lässt, bekennt sich weiter als freischwebender Linker und ist nicht zum Wertekonservativen mutiert. „Die Erzeugung des Menschlichen ist das Kriterium von Emanzipation, weniger die abstrakte politische Entscheidung zwischen links und rechts.“ (S.129)

    Er beschreibt an vielen Beispielen eine Gesellschaftsform, die zu zerbrechen scheint. Seine Beobachtungen aus dem Alltag, die man als bereichernd, nachvollziehbar und teilweise sehr komisch empfindet, untermauert er mit sozialpsychologischen Erklärungen. Man kann auf der Straße lernen, wenn man die Augen offen hält und die Sinne wach hält. Andere stellen sich taub und nennen ihre Gehörlosigkeit Realismus.

    Die Ökonomisierung der Gesellschaft mit dem einhergehenden Privatisierungswahn und das Eindringen in alle Kapillaren unseres Lebens belegt er an etlichen Beispielen, so auch aus dem Gesundheitswesen oder der Psychiatrie mit der bemerkenswerten Metapher der Gemeinsamkeiten von Krebs und Kapital, die jeweils ihren eigenen Wirt vernichten oder wie Lenins Aphorismus sagt:
    „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“

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  2. Götz Eisenberg´s Schriften

    - Fluchtversuche. Über Genesis, Verlauf und schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, 2., überarbeitete Auflage, Focus, Gießen 1975, ISBN 3-920352-54-8 (1. Auflage, Prolit-Buchvertrieb, Gießen 1973, ohne ISBN).
    - Lenin: Theorie und Revolution, in: Politische Theorien und Ideologien, Hrsg.: Franz Neumann, Baden-Baden 1974 (Signal-Verlag)
    - Marxismus und Arbeiterbewegung. Versuch über das Verhältnis von revolutionärer Theorie und Erfahrung. Focus, Gießen 1974, ISBN 3-920352-48-3.
    - Fuffziger Jahre. Ein Lesebuch. Zusammen mit H.-J. Linke herausgegeben im Gießener Focus-Verlag 1980
    - Über die Lust am Krieg und die Sehnsucht nach Frieden. Zur unterirdischen Geschichte der Feindseligkeit. In: Frieden vor Ort, Hrsg.: Marianne und Reimer Gronemeyer, Frankfurt (Fischer Taschenbuchverlag) 1982
    - Der Tod im Leben. Ein Lesebuch zu einem ‚verbotenen’ Thema. Zusammen mit Marianne Gronemeyer herausgegeben im Giessener Focus-Verlag 1985
    - An den Rändern. Abseitige Texte aus 10 Jahren. Focus, Gießen 1988, ISBN 3-88349-359-7.
    - Jugend und Gewalt. Der neue Generationenkonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft. Zusammen mit Reimer Gronemeyer, Reinbek 1993 (Rowohlt-Verlag)
    - Amok - Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Haß. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000, ISBN 3-499-22738-X.
    - „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Zur Sub- und inneren Kolonialgeschichte der Arbeitsgesellschaft. In: Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit. Hrsg. von: Robert Kurz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Hamburg 1999 (Konkret Literatur Verlag)
    - Gewalt, die aus der Kälte kommt. Amok, Pogrom, Populismus. Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, ISBN 3-89806-203-1.
    - „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“. Zur Psycho- und Soziodynamik zeitgenössischer Tötungsdelikte. In: psychosozial Nr. 104, Gießen 2006
    - Alles mitreißen in den Untergang. In den westlichen Metropolen scheint sich der Amoklauf als ein „Modell des Fehlverhaltens“ zu etablieren. In: psychosozial Nr. 112, Gießen 2008
    - Der Einbau des Zünders in eine Bombe. Gewalt verherrlichende Computerspiele im Gefängnis. In: psychosozial Nr. 113, Gießen 2008
    - Verbrechen und Therapie. Versuch über „Schlüsselerlebnisse“. In: psychosozial Nr. 116, Gießen 2009
    - ... damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind. Pattloch, München 2010, ISBN 978-3-629-02250-9.
    - Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-95558-108-4.

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  3. An einigen Beispielen soll die phänomenologische Vorgehensweise des Autors dargestellt werden. So setzt er sich überaus kritisch mit dem Sachverhalt der Vernetzung auseinander. Gut vernetzt zu sein, wird mittlerweile als eine positive Eigenschaft einer Person angesehen; ja, es ist geradezu ein Gradmesser für deren soziale und politische Bedeutung geworden. Er wundert sich über die Leidenschaft, mit der die Leute gegenwärtig ihre Vernetzung und Selbstenthüllung via soziale Netzwerke betreiben … Orwell hätte sich eine derartige freiwillige Datenabgabe und Offenlegung noch der intimsten Lebensbereiche in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können, und alle großen Diktatoren haben von solchen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten nur träumen können. (11) Für den Autor ist Vernetzung zum Zentralbegriff einer geschmeidigen Herrschaft geworden, da die Etablierung der universalen Kontroll- und Überwachungssysteme sich als Technik und Sachzwang tarnt und damit der Kritik entzieht. Er fragt sich, welche Folgen dies für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen hat; für ihre Art, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Alles ist miteinander vernetzt, aber die Entfernungen zwischen den Menschen werden immer größer, zitiert er Moritz Rinke. Man könnte von einer Entfremdung zweiten Grades sprechen. Die Menschen haben das Bewusstsein ihrer Entfremdung eingebüßt und fühlen sich in ihr heimisch. Damit ist die Entfremdung auf eine zynisch-perverse Art und Weise aufgehoben. (12) Damit einher geht eine Vereinheitlichung und Verarmung der Ausdrucksformen, wie sie in den gängigen Neusprech-Formeln zum Ausdruck kommen, wo Formulierungen wie auf Augenhöhe; gut aufgestellt; zielführend; fokussiert; ins Boot geholt; auf den Prüfstand gestellt usw. dominieren und die mittlerweile zum geläufigen Repertoire von Politikern und Medien gehören. In dieser Hinsicht erweisen sich die sozialen Netzwerke als Gleichschaltungsmaschine, indem sie die Kommunikation standardisiert und homogenisiert.

    Der Autor sieht sehr wohl, dass auch die sozialen Bewegungen der jüngsten Zeit sich dieser Medien bedienen und sie zu deren Erfolg beigetragen haben. Gleichwohl gibt er zu bedenken, dass es auch ohne diese gehen müsste. Wir dürfen die Formen unserer Gesellschaftlichkeit nicht aus den Händen von Facebook und Twitter entgegennehmen. Die neuen Formen der Vergesellschaftung, die sich in den aktuellen sozialen Bewegungen herausbilden und in denen sich etwas qualitativ Neues ankündigt, können nicht die Gesellschaftlichkeit digitaler Netze sein, sondern müssen aus Fleisch und Blut sein und auf leiblicher Anwesenheit basieren. Brüderlichkeit und Solidarität entstehen von Angesicht zu Angesicht, indem ich mich im anderen erkenne, und alle gemeinsam die Erfahrung einer Kraft machen, von der sie gestern noch nicht wussten, dass sie darüber verfügen – nicht in der Einsamkeit vor der Tastatur oder dem Touchscreen. Aus dieser erwachsen lediglich neue Formen des Autismus, keine solidarischen Verkehrsformen. (13f.)

    Wolfgang Lieb

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