Sonntag, 7. August 2016

Die enthemmte Mitte




 

Die enthemmte Mitte:
Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland / Die Leipziger Mitte-Studie 2016 (Forschung psychosozial)
Taschenbuch von Oliver Decker (Herausgeber, Mitwirkende), Johannes Kiess (Herausgeber, Mitwirkende), Elmar Brähler (Herausgeber, Mitwirkende), & 12 mehr

Seit 2002 untersucht die Leipziger Arbeitsgruppe um Brähler und Decker die rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die gewonnenen Daten und sozialpsychologischen Analysen der »Mitte«-Studien der Universität Leipzig sind zur bundesweiten Grundlage der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus geworden.

Die rechtsextreme Einstellung ist kein Randphänomen. Insbesondere autoritäre Aggressionen gegen MigrantInnen sind weit verbreitet. Die globale Wanderungsbewegung stellt die Bundesrepublik deshalb zunehmend vor besondere Herausforderungen. Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass antidemokratische Ideologien seit einigen Jahren verstärkt artikuliert werden und sich das politische Klima in der Bundesrepublik verschiebt. Im Langzeitverlauf lassen sich so verschiedene politische Milieus, ihre Polarisierung und der Legitimationsverlust demokratischer Institutionen beschreiben.

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2016 befürworteten fünf Prozent der Befragten eine rechtsautoritäre Diktatur. Chauvinismus
wurde von 17 Prozent der Befragten, Ausländerfeindlichkeit von 20 Prozent geteilt. Antisemitisch antworteten fünf Prozent der Befragten und sozialdarwinistisch drei Prozent. Die Verharmlosung des Nationalsozialismus erhielt zwei Prozent Zustimmung.
Die Zustimmung zu einzelnen Aussagen innerhalb der Dimensionen ist mitunter jedoch deutlich höher.

Die Anzahl der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild, die also durchschnittlich alle 18 Aussagen des Fragebogens befürworten, ist im Vergleich zu den Vorjahren gesunken.
2016 traf dies auf 5,4 Prozent der Befragten zu. Im Jahr 2014 lag dieser Wert bei 5,7 und in den Vorjahren relativ stabil bei acht bis neun Prozent. Neben der rechtsextremen Einstellung wurden weitere Aspekte untersucht, unter anderem Islamfeindschaft, Antiziganismus sowie die Abwertung von AsylbewerberInnen.
Dazu wurden die Instrumente benutzt, die Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld und seine KollegInnen in ihren Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit entwickelt haben.
Und hier ist in allen Bereichen ein Anstieg im Vergleich zu 2014 zu verzeichnen. So gab die Hälfte der Befragten an, sich durch «die vielen Muslime hier» manchmal «wie ein Fremder im eigenen Land» zu fühlen; 2014 hatten dies nur 37 Prozent bejaht. 58 Prozent der Befragten gaben 2016 an, dass sie ein Problem damit hätten, wenn sich Sinti und Roma
in ihrer Gegend aufhielten.
Die größte Abwertung zeigten die Befragten gegenüber AsylbewerberInnen. 81 Prozent widersprachen der Aussage, der Staat solle bei der Prüfung von Asylanträgen
großzügig sein. 2014 lag dieser Wert bei 76 Prozent.

Während «klassische» Themen der rechtsextremen Einstellung (Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus) also weniger Zustimmung erhalten, rücken neue Themen in den Fokus autoritärer Aggression. Dies trifft vor allem AsylbewerberInnen,
Muslime und Sinti und Roma. Es zeigt sich, dass autoritäre und ausgrenzende Einstellungen nicht verschwunden sind, sondern sich entsprechend veränderter sozialer Normen anders artikulieren.

Aufschlussreich ist hier die vergleichende Analyse politischer Milieus der Jahre 2006 und 2016. Hierfür wurden in der aktuellen Leipziger «Mitte-Studie» Gruppen gebildet, die jeweils
ähnlich geantwortet haben.
Es ergaben sich drei antidemokratische Milieus (Latent antisemitisch-autoritäres Milieu,
Ethnozentrisch-autoritäres Milieu, Rebellisch-autoritäres Milieu), ein vorurteilsgebundenes Milieu mit relativer Akzeptanz des bestehenden Systems (Ressentimentgeladenes Milieu) und zwei demokratische Milieus (Modernes Milieu und Konformes Milieu).

Der Vergleich der politischen Milieus 2006 und 2016 zeigt, dass die vorurteilsgebundenen und antidemokratischen Milieus in den letzten zehn Jahren abgenommen haben. Während 2006 noch 73 Prozent der Bevölkerung (latent) antidemokratischen Milieus zuzurechnen waren, sind es 2016 nur noch 40 Prozent.
Gleichzeitig ist aber eine gesellschaftliche Polarisierung und, für die antidemokratischen Milieus, eine gewaltvolle Radikalisierung erkennbar. Während die modernen Milieus 2016 Gewalt stärker ablehnen und die Legitimation des politischen Systems höher einschätzen, hat sich das Rebellisch-autoritäre Milieu deutlich radikalisiert. Die Gewaltbereitschaft ist hier gestiegen und die Legitimation des politischen Systems hat abgenommen.

In den demokratischen Milieus zeigt sich die oben beschriebene soziale Normverschiebung deutlich: Rechtsextreme Einstellungen werden zwar abgelehnt, bestimmte Gruppen aber abgewertet.
So antworten beispielsweise 28 Prozent der Befragten des Modernen Milieus antiziganistisch und über die Hälfte der Angehörigen des Konformen Milieus islamfeindlich. Die Abwertung bestimmter Gruppen ist weiter gesellschaftsfähig geworden.

Die Leipziger «Mitte-Studie» 2016 zeigt also eine Verschiebung:
Die Zustimmung zur rechtsextremen Einstellung ist zurückgegangen und die relative Größe der demokratischen Milieus hat zugenommen Doch zugleich ist die Zustimmung zu gruppenbezogenen Abwertungen, auch in den demokratischen Milieus, gewachsen.


Im Vergleich zur Studie von 2012 fällt auf, dass die Parteizugehörigkeit nicht mehr nach Ost und West aufgeschlüsselt wird und sich "rechtsextreme" Einstellungen nicht nur bei eher linken Parteien, sondern generell bei den Volksparteien finden. Die Präsentation zur Pressekonferenz zeigt, dass viele Wähler (u. a. von deren früheren Hochburg SPD) zur AfD gewandert sind, wobei die SPD im Bundestag die Partei mit den meisten "rechtsextremen" Wählern bleibt. Auch die Gewerkschaften sind weiterhin "rechtsextremer" als der Rest der Bevölkerung.

Mit Beiträgen von Elmar Brähler, Anna Brausam, Oliver Decker, Eva Eggers, Jörg M. Fegert, Alexander Häusler, Johannes Kiess, Kati Lang, Thomas Mense, Paul L. Plener, Timo Reinfrank, Jan Schedler, Frank Schubert, Gregor Wiedemann und Alexander Yendell


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