Mittwoch, 25. Januar 2017

(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten









(Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten
(edition suhrkamp)
Taschenbuch von Steffen Mau (Herausgeber), Nadine M. Schöneck (Herausgeber)
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Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
In der edition suhrkamp sind zuletzt erschienen: 

- Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? und (zusammen mit Nadine M. Schöneck als Herausgeber) 
- (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten
(es 2684)

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Wie gerecht sind Kapitalmärkte, Bildungspakete, der Sozialstaat, die Frauenquote oder die Erbschaftssteuer? Reicht es aus, Ungleichheiten zu beseitigen, um die Gesellschaft gerechter zu machen?
In diesem Buch diskutieren Autorinnen und Autoren
aus verschiedensten Fachrichtungen teils sehr konträr über den Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit.
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Ob es um Bildung, die Einkommen von Spitzenmanagern oder Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern geht: Fragen der (Un-)Gleichheit und Gerechtigkeit begegnen uns täglich in den Medien.
Gleichzeitig handelt es sich seit den Anfängen des Faches um klassische Themen der Soziologie:
- Wie viel Ungleichheit ist gerecht?
- Wie viel Ungleichheit kann eine Gesellschaft verkraften, wie viel braucht sie?
- Ab welchem Punkt drohen Widerstand oder Exklusion?
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In diesem Band beleuchten renommierte Sozialwissen-schaftlerInnen und Publizisten diese Fragen aus unterschied-lichen Blickwinkeln. Das Buch bietet einen Überblick über die soziologische Debatte und schließt – durchaus polemisch – an aktuelle politische Diskussionen an.
Mit Beiträgen von Jutta Allmendinger, Rainer Hank, Sighard Neckel, Paul Nolte, Hartmut Rosa u. a.
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2 Kommentare:

  1. Warum der Kapitalismus den Sozialstaat braucht
    Stephan Lessenich

    Vielleicht ist es am besten, einfach am Anfang zu beginnen. Denn im Anfang jener „Marktgesellschaft“, als die der moderne Kapitalismus heute gerne bezeichnet wird,
    war nichts anderes als – der Staat. Der Staat, also die institutionalisierte politische Gewalt mit der von ihr ausgeübten Intervention in gesellschaftliche Verhältnisse, kam
    historisch nicht etwa nach dem Markt, um eine nach den Gesetzen des Preismechanismus organisierte „gute Gesellschaft“ aus den Angeln zu heben und mit dem süßen Gift sozialer Wohltaten zu infizieren.

    Umgekehrt wird der kapitalistische Schuh daraus: Die gesellschaftliche Konstitution von Märkten, das zeigt ein auch nur flüchtiger Blick in die Sozialgeschichte der westlichen Moderne, war eine durch und durch politische Veranstaltung. Was Karl Marx als den historischen Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ analysiert hat, nämlich die mit der Etablierung privater Eigentumsverfügungsrechte einhergehende Zerstörung der bis dahin herrschenden, nicht marktförmigen Organisationsweisen wirtschaftlicher Produktion und sozialer Reproduktion, wäre ohne den (nicht selten übrigens äußerst gewaltsamen) Eingriff des Staates weder denkbar noch möglich gewesen.

    Am Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsordnung stand mithin eine staatliche Intervention erster Ordnung: Erst durch die Enteignung der Subsistenzmittel der einen und die Übereignung von Rechtstiteln an die anderen konnte die „Marktgesellschaft“ ihre Entwicklung nehmen. Getrieben durch die wachsende wirtschaftliche Macht des besitzenden Bürgertums erkämpfte der moderne Staat das Eigentumsrecht – und errichtete damit,
    im Gewand bürgerlicher Rechtsgleichheit, eine Struktur materieller Ungleichheit, auf der dann die so selbstverständlich anmutenden marktliberalen Gerechtigkeitsvorstellungen
    aufbauen konnten. Erst unter diesen historischen Bedingungen nämlich konnte es als eine (un-) glückliche Fügung des „Schicksals“ und als ein unabweisbarer Ausweis „natürlicher“ Ungleichheiten erscheinen,wenn man in eine reiche oder aber in eine arme Familie geboren wurde. Und nur unter der Voraussetzung einer solchermaßen naturalisierten „Marktgesellschaft“ konnte es dann – und kann es bis heute – als ein Akt sozialtechnokratischen Steuerungswahns bzw. als eine unbotmäßige Anwandlung paternalistischer Übergriffigkeit gelten, wenn eine marktexterne Instanz wie der Staat sich anmaßt, in diese ursprünglich „gerechte“ Ungleichverteilung von Gütern und Ressourcen zu intervenieren.

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  2. Warum der Kapitalismus den Sozialstaat braucht #2
    Stephan Lessenich

    Dieser Staatsinterventionismus zweiter Ordnung setzte freilich erst geraume Zeit später ein, und zwar, als die vielleicht am besten von dem Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftler Karl Polanyi (1886–1964) geschilderten, gesellschaftlich zerstörerischen Folgen des industriellen Kapitalismus für immer breitere Bevölkerungskreise auf immer drastischere Weise spürbar wurden.
    Polanyi beschreibt die in diesem Lichte zu sehenden sozialen Kämpfe um eine politische Intervention in die politisch hergestellte Marktwirtschaft zugunsten der besitzlosen, arbeitenden Klassen als eine gesellschaftliche Gegenbewegung gegen die kapitalistische „Teufelsmühle“ – ein Bild, das der real existierenden „Marktgesellschaft“ vor dem Sozialstaat ziemlich nahekommen dürfte. Unter sozialhistorischer Garantie jedenfalls bedeutend näher als die herrschende liberale Erzählung eines Koordinationszusammenhangs
    von formalrechtlich Freien und Gleichen, deren verallgemeinertes Markthandeln, von allen Ungleichheiten des Alters oder des Geschlechts und allen sozialen Differenzen von class und race absehend, der quasi-automatischen Herstellung und Sicherung des Gemeinwohls diene – wenn nur der Staat sich aus dem Marktgeschehen heraushalte.
    Dieses Bild glücklicher Marktvergesellschaftung jenseits materialer Staatsintervention ist nichts anderes als eine (retrospektive) Utopie: das Zerrbild einer vermeintlich gewesenen und nicht nur unter effizienzökonomischen, sondern auch unter gerechtigkeits-philosophischen Gesichtspunkten überlegenen Gesellschaftsform, die es im Interesse aller
    heute bzw. zukünftig wiederherzustellen gelte.

    Dass eben dies aber nicht nur für die Lebensqualität der vom Kapitaleinsatz der Besitzenden abhängigen Lohnarbeitenden, sondern auch für das Überleben des modernen
    Kapitalismus selbst fatal wäre, wird von den Apologeten der „freien“ Markwirtschaft gerne übersehen. Dabei ist der interventionistische Sozialstaat nichts anderes als das
    funktional notwendige und legitimatorisch unverzichtbare „Andere“ der kapitalistischen Ökonomie, ihr unverzichtbarer (wenn auch ungeliebter) ständiger Begleiter. Ohne die
    unzähligen Leistungen des Sozialstaats zur Sicherung der Kapitalrentabilität – vom öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur infrastruktur- und subventions-politischen Gewährleistung früher der industriellen, heute der „informations-gesellschaftlichen“ Revolution – wäre die hiesige Organisationsform des Wirtschaftens schlechterdings undenkbar. Und auch wenn der Marktliberalismus davon heute nichts mehr wissen will, so war doch die Wiedereinrichtung kapitalistischer Verhältnisse und die gesellschaftliche Akzeptanz der Institution des Privateigentums in den europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar an den Klassenkompromiss der politischen Gewährung von „Sozialeigentum“ (Robert Castel) für die ansonsten besitzlosen Lohnarbeitenden gebunden.

    Dieser Zusammenhang aber gilt bis in die Gegenwart, und vielleicht sogar heute mehr denn je: Ohne staatliche Umverteilung der Markteinkommen und ohne die politische Begrenzung von Marktungleichheiten kann sich auf Dauer keine „Marktgesellschaft“ halten, weder in ihrer Funktionsweise noch in den Augen ihrer Bürger/-innen.
    There is no alternative:
    Mit Blick auf die Sozialstaatsabhängigkeit der kapitalistischen Ökonomie ist es tatsächlich einmal angebracht, in das ansonsten den Wortführern neoliberaler Gesell-schaftsgestaltungsverhinderung vorbehaltene Mantra von der faktischen Alternativ-losigkeit politischer Optionen einzustimmen.

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